„Ich liebe die Menschen in Europa“: Darum mischt sich J.D. Vance jetzt in unsere Migrationspolitik ein

Als ich kürzlich J.D. Vance interviewte, schlug er einen versöhnlicheren Ton gegenüber Europa an, als es der Kontinent zuletzt erlebt hat. „Ich liebe die Menschen in Europa“, sagte der US-Vizepräsident. Dennoch hielt er an seiner Kritik an den europäischen Staats- und Regierungschefs fest und beklagte, dass sie zu wenig in die Landesverteidigung investiert hätten. Dieser Vorwurf dürfte hinlänglich bekannt sein, da er von demokratischen und republikanischen Regierungen mindestens seit der Präsidentschaft George W. Bushs erhoben wird.
Die zweite Klage von Vance dürfte man in den meisten europäischen Hauptstädten jedoch als neu und beunruhigend empfinden: Hier ging es ihm um Einwanderungspolitik und die Weigerung der europäischen Mitte-Parteien, die Forderung der Menschen nach weniger Zuwanderung zu erfüllen. „Das gesamte demokratische Projekt des Westens fällt auseinander“, sagte Vance, „wenn die Menschen immer wieder weniger Zuwanderung fordern und von ihren Anführern mit mehr Zuwanderung belohnt werden.“
Warum sollte sich der amerikanische Vizepräsident mit der europäischen Migrationsfrage befassen, einer internen Angelegenheit, die von der Europäischen Union und ihren Mitgliedsstaaten entschieden wird? Bei der Antwort darauf muss man drei Dimensionen unterscheiden.
Von Flüchtlingen hörte ich 2015 öfter die Frage: „Wo kriegen wir die beste Sozialhilfe?“Die erste Dimension liegt auf der Hand: Öffentlichkeitsarbeit. Natürlich lässt sich die europäische Einwanderungspolitik nicht einfach als Projekt elitärer Bevormundung abtun – doch ganz unbegründet ist dieser Vorwurf nicht. Als ich 2015 für das Wall Street Journal (WSJ) aus London über die Migrationswelle berichtete, fiel mir eine bezeichnende Diskrepanz auf: zwischen der optimistischen Rhetorik europäischer Eliten und den Realitäten, die diese bald widerlegen sollten.
Ich schloss mich dem Zustrom der Migranten an, der sich von der Türkei über die griechischen Inseln und den Balkan bis zu ihrem Endziel erstreckte. Das war für die meisten der 1,3 Millionen Neuankömmlinge Deutschland. Als iranischer Migrant, der in den Westen gekommen war, ging ich davon aus, voll Wohlwollen für die Migranten zu sein. Das waren auch die Redakteure des WSJ, das sich seit langem für offene Grenzen einsetzt. Aber dieses Wohlwollen konnte dem Kontakt mit der Realität nicht standhalten, selbst als die meisten Mainstream-Journalisten Angela Merkels Linie „Wir schaffen das“ folgten und Skeptiker geißelten.
Viele, die damals kamen, dehnten die Definition aus, wer als Flüchtling gilt. Syrer, die vor dem Bürgerkrieg in ihrem Land flohen, machten nur ein Drittel aus, wie ich beobachtete (und wie es später von Eurostat bestätigt wurde). Bei den anderen handelte es sich um Wirtschaftsmigranten, aber nicht um sehr ehrgeizige. Es war offensichtlich, dass die Integration dieser Männer – sie waren überwiegend jung und männlich – eine große Herausforderung werden würde: Als ich undercover im Unterschlupf eines afghanischen Schmugglers in Istanbul lebte, wurde ich Zeuge wiederholter Gewaltausbrüche. Oft hörte ich die Frage: „Wo kriegen wir die beste Sozialhilfe?“
J.D. Vance will eine populistische InternationaleEin Jahrzehnt später. Merkels Entscheidung, die Tore Europas zu öffnen, prägt die europäischen Gesellschaften und ihre Politik weiterhin. Daraus resultierende soziale Zerfallserscheinungen und die anhaltende Belastung öffentlicher Dienstleistungen heizten die Unterstützung für rechte Parteien an. Auch etablierte Parteien, insbesondere die dänischen Sozialdemokraten, sahen sich veranlasst, der Forderung nach einem strengeren Grenzregime und härteren Integrationsmaßnahmen nachzukommen.
Vance setzt darauf, dass er über die Köpfe der führenden europäischen Politiker hinweg sprechen kann – direkt zum unzufriedenen Teil der europäischen Öffentlichkeit. Das Manöver könnte Vorteile haben. Zweifellos denkt ein Teil der Europäer: „Ich wünschte, wir hätten einen Vance hier“, auch wenn sie dies vielleicht nicht öffentlich äußern. Aber der Schachzug könnte auch nach hinten losgehen, da viele Europäer es nicht schätzen, von Amerikanern über ihre inneren Angelegenheiten belehrt zu werden, genauso wenig wie Amerikaner es mögen, wenn europäische Politiker über „Black Lives Matter“ schwadronieren.
Die zweite Dimension von Vance’ Strategie ist der Traum von einer konservativ-populistischen Internationale. Das heißt, Vance und die Trump-Bewegung im weiteren Sinne hätten es lieber mit einem Europa zu tun, das von nationalistischen und populistischen Konservativen dominiert wird. Das gilt bereits für eine Reihe von EU-Staaten, darunter Kroatien, die Tschechische Republik, Finnland, Ungarn, Italien, die Niederlande und die Slowakei, um nur einige zu nennen. Ein breiter, generationenübergreifender Trend nach rechts könnte im Gange sein, und die Trumpisten sind nicht abgeneigt, diesem historischen Geist einen Schub zu geben.
Auch hier liegt der Vorteil auf der Hand. Parteien helfen ihren Freunden gerne über die Landesgrenzen hinweg (daher haben Aktivisten der britischen Labour-Partei letztes Jahr für Kamala Harris geworben, was ihr an der Wahlurne aber nicht viel gebracht hat). Die Trumpisten würden es vorziehen, mit einem Europa zu verhandeln, das ihre politische Sprache spricht und die Welt durch eine ähnliche Linse sieht: ein Europa, das nationale Interessen und Identität gegenüber transnationalen Idealen in den Vordergrund stellt.

Die Schattenseiten dessen sind nicht zu übersehen. Ein Europa, das immer nationalistischer wird, ist weniger bereit, die amerikanische Führung zu akzeptieren, ganz gleich, ob sie sich an Trump orientiert oder liberal-internationalistisch ist. Nationalistische Parteien in Mittel- und Osteuropa vertreten beispielsweise häufig die Ansicht, dass der Kontinent inmitten der wachsenden Rivalität zwischen den beiden Supermächten eine Art Äquidistanz zwischen Washington und Peking wahren sollte. Würde die Trump-Administration nicht lieber ein Europa sehen, das sich an die Seite Amerikas stellt, etwa beim Thema Taiwan?
Fairerweise muss man sagen, dass Vance in diesem Punkt intellektuell recht konsequent war. Er sagte mir: „Ich glaube nicht, dass ein unabhängigeres Europa schlecht für die Vereinigten Staaten ist – es ist gut für die Vereinigten Staaten. Wenn ich die Geschichte Revue passieren lasse, denke ich, dass die Briten und Franzosen mit ihren Meinungsverschiedenheiten mit Eisenhower in Bezug auf den Suezkanal sicherlich recht hatten.“ Er nannte Charles de Gaulles selbstbewusste, unabhängige Haltung gegenüber Washington als Vorbild für das 21. Jahrhundert und meinte, dass der Irakkrieg vielleicht nicht stattgefunden hätte, wenn mehr EU-Staats- und Regierungschefs sich der harten Linie von George W. Bush widersetzt hätten.
J.D. Vance glaubt wirklich an seine Kritik des NeoliberalismusDas bringt uns zur dritten Dimension seiner europäischen Strategie: echte Überzeugung. Vance’ Weltanschauung ist stark davon geprägt, wie seine Heimat Appalachen unter dem neoliberalen Modell gelitten hat. Wie er mir in einem früheren Interview sagte, bevor Trump ihn als seinen Kandidaten auserwählt hatte, sieht er Arbeitnehmerfreizügigkeit als ein wesentliches Element der neoliberalen Ordnung an, die es Unternehmen ermöglicht, eine Reservearmee von ungelernten Arbeitskräften zu importieren, die bereit sind, für weniger Geld zu arbeiten. So werden die Löhne und die Verhandlungsmacht der einheimischen Arbeitnehmer untergraben.
Er befürchtet, dass eine solche Massenmigration die westlichen Demokratien in Gesellschaften verwandeln würde, die denen am Persischen Golf nicht unähnlich sind, mit einer schmalen Elite, die über Leibeigene herrscht.
Während die Progressiven und die Arbeiterbewegung bereit waren, sich gegen den freien Warenverkehr – dem anderen wichtigen Element der neoliberalen Ideologie – zu wenden, wagen sie es nicht, die Migration anzutasten. Für Vance stellt dies eine Chance für die Rechte dar, Wähler aus der Arbeiterklasse zu gewinnen, die einst für die traditionellen Parteien der Linken stimmten. Diese Neuausrichtung ist in den Vereinigten Staaten bereits weit fortgeschritten und bestimmt zunehmend auch die Situation in Europa. Mit seinen schärferen Äußerungen richtet sich Vance daher eher an die zukünftigen Führer des Kontinents als an die derzeitigen Machthaber.
Berliner-zeitung